Offener Brief: Rechte für junge Geflüchtete

Menschen, die flüchten müssen, sind weder kriminell noch bedrohlich, sondern brauchen unsere Solidarität und unseren Schutz. Wenn wir sogar traumatisierte Kinder und Jugendliche ohne Rücksicht auf deren Leben das Asyl verweigern, verroht unsere Gesellschaft. Die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs kritisieren in einem offenen Brief die verschärften Asylgesetze und deren katastrophalen Auswirkungen auf junge, geflüchtete Menschen, die hier in Österreich Schutz suchen.

Offener Brief

Salzburg, am 1.8.2018

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
sehr geehrter Herr Vizekanzler,
sehr geehrte Damen und Herren Nationalratsabgeordnete,
sehr geehrte Damen und Herren Bundesräte und Bundesrätinnen,

die Kinder- und Jugendanwaltschaften Österreichs sind laufend und in jüngster Zeit verstärkt mit unvorstellbaren Schicksalen geflüchteter junger Menschen konfrontiert: Unmittelbar durch die Einzelfallarbeit oder durch die Begleitung von Jugendlichen und ihren PatInnen in unseren ehrenamtlichen Patenschaftsprojekten. Mittelbar aufgrund des Austauschs und der Vernetzung mit zahlreichen Hilfsorganisationen und einer solidarischen Zivilbevölkerung.

Dabei zeigen sich immer deutlicher die katastrophalen Auswirkungen der verschärften Gesetze und der damit einhergehenden Verwaltungs- und Abschiebepraxis:

  • Es scheint mittlerweile irrelevant, aus welchem (bürger-)kriegszerrütteten Land die Kinder und Jugendlichen kommen, ob und welche Bindungen und Chancen im Herkunftsland bestehen, welche Traumata sie tatsächlich in ihren jungen Leben erleiden mussten und welche enormen Integrationsanstrengungen sie in Österreich unternommen haben.
  • Es zählen weder die Sprachkenntnisse, die die jungen Menschen in kürzester Zeit erworben haben, noch, welche schulischen Fortschritte sie erreichen konnten oder welche Ausbildung sie absolvieren. Es zählen auch nicht ihre aufgebauten sozialen Netze und die engen Bindungen zu den Patinnen und Paten.
    Vielmehr stehen systematische Ausgrenzung, strukturelle Benachteiligung und behördliche Einschüchterung an der Tagesordnung.
  • Sei es, dass Bescheide mitten in der Nacht durch polizeiliches Großaufgebot zugestellt werden, als ginge es darum, ein Schwerverbrechen zu verhindern.
  • Sei es mittels überzogener (Verwaltungs-)Strafen mit unverhältnismäßig schwerwiegenden – und den Jugendlichen Großteils unbekannten – Folgen, zum Beispiel wenn sie das Erstaufnahmequartier für länger als zwölf Stunden verlassen und damit ihren Platz verlieren.
  • Sei es, dass sie im Falle einer Lehre – im Gegensatz zu den anderen Gleichaltrigen – nur einen Berufsfreibetrag in Höhe von Euro 150,- behalten dürfen und den Rest, unabhängig vom Lehrjahr und der Höhe der Lehrlingsentschädigung, dem Staat abliefern müssen.

Was all das für die geflüchteten jungen Menschen und ihre Nächsten bedeutet? Unvorstellbare Angst, Verzweiflung, tonnenschwere Sorgen und das Begraben der Hoffnung auf ein Leben in Frieden, Sicherheit und Gleichberechtigung.

Gesellschaftliche Verrohung

Für die Gesellschaft bedeutet das als Konsequenz, neben dem Verlust von demografisch benötigten SteuerzahlerInnen, den Verlust von Solidarität, Würde und Mitgefühl und eine gesamtgesellschaftliche Verunsicherung und Verrohung als Folge. Die Akzeptanz der Bevölkerung dazu schwindet, wie zahlreiche Initiativen („Menschen.Würde.Österreich“ oder „Ausbildung statt Abschiebung“) oder Umfragen zeigen, wonach drei Viertel der Österreicherinnen und Österreicher gegen die Abschiebung von Lehrlingen sind.

Geflüchtete Kinder und Jugendliche sind eine besonders verletzliche Gruppe. Sie haben das Recht auf besonderen Schutz und Beistand durch den Staat, so sieht es Art. 22 der UN-Kinderrechtskonvention vor. Gemäß Art. 3 ist das Kindeswohl bei allen staatlichen Maßnahmen vorrangig zu berücksichtigen. Dazu hat sich Österreich mit der Unterzeichnung dieses völkerrechtlichen Vertrags vor knapp 30 Jahren verpflichtet. Das Kindeswohlvorrangigkeitsprinzip wurde zudem in Art. 1 des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern aufgenommen und ist damit geltendes Recht.

Noch länger zurück reicht die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. „Im Wissen, dass eine Welt, in der jeder Mensch ein Recht auf Freiheit von Furcht und Not hat, als das höchste Streben des Menschen gilt“, wurde die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948 von den Vereinten Nationen beschlossen. Die Anerkennung der angeborenen Würde der Menschen bildet die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.

Die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte führte in der Vergangenheit bereits zu Akten der Barbarei, die das Gewissen der Menschheit bis heute mit Empörung erfüllen. Wir appellieren daher mit Nachdruck an Sie als politisch Verantwortliche, sich in Ihrem Wirkungskreis für die Einhaltung der internationalen menschen- und kinderrechtlichen Vorgaben einzusetzen.

Kindeswohlprüfung und Rechtsschutz

Konkret fordern wir:
1. Die gesetzliche Verankerung einer verpflichtenden umfassenden Kindeswohlprüfung im gesamten Asylverfahren angelehnt an § 138 ABGB, ergänzt um Kriterien wie Bindungen und Sozialisation an/in Österreich, Dauer des Aufenthalts im Verhältnis zum Alter, physische und psychische Gesundheit (Traumafolgen) sowie Zugang zum Gesundheitssystem, (Über)Lebens-, Bildungs- und Entwicklungschancen im Herkunftsland (entsprechende Änderungen in §§ 55, 57 Asylgesetz, § 9 BFA-VG u.a.).
2. Die Bildung einer „Härtefallkommission“ in jedem Bundesland, die nach negativem Asylentscheid in sogenannten „Abschiebefällen“ ein humanitäres Bleiberecht prüft. Diese Kommission soll aus politischen Vertretungen der Länder, der Gemeinden, Beamtinnen und Beamte des Bundesamtes für Fremdenrecht und Asyl, Vertretungen der Kirche und NGOs sowie weiteren Expertinnen und Experten aus den Bereichen Kinderrechte oder Kinder- und Jugendpsychiatrie bestehen. Dabei sollen insbesondere Rechtsschutzmängel im Verfahren, Kinder- und Jugendrechte, die Schutzbedürftigkeit der betroffenen Person und Integrationssachverhalte geprüft werden.
3. Die Schaffung eines Aufenthaltstitels für in Ausbildung stehende junge Menschen, bis zum Abschluss ihrer Ausbildung/Lehre mit der Möglichkeit, einer zweijährigen Anschlussbeschäftigung und damit der Chance, nachhaltig am heimischen Arbeitsmarkt Fuß fassen zu können, wie es auch zahlreiche Initiativen aus der Wirtschaft fordern (ähnlich der 3+2 Regelung in Deutschland).
4. Ein Abschiebestopp in Länder, in denen Leib und Leben der Geflüchteten in Gefahr sind (lt. UNHCR-Berichten zur aktuellen Sicherheitslage des jeweiligen Landes).

Bitte tragen Sie auch in der öffentlichen Diskussion dazu bei, dass die vielzitierten christlichen Werte (wie z.B. jenes Gleichnis des Weltgerichts – „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, Matthäus 25,40) sowie die europäischen Werte, auf die wir zu Recht jahrzehntelang stolz sein konnten, nicht zu leeren Phrasen werden.

Setzen Sie sich mit uns für rechtsstaatliche Verfahren ein, in denen kinderrechtliche Grundsätze und die enormen Integrationsbemühungen junger Menschen nicht ignoriert, sondern honoriert werden.

Wir zählen auf Ihre Unterstützung!

Im Namen aller Kinder- und JugendanwältInnen Österreichs,

Dr.in Andrea Holz-Dahrenstaedt

Salzburger Kinder- und Jugendanwältin

Der Brief erging auch an:
Kardinal Christoph Schönborn, weitere Mitglieder der Bundesregierung, Volksanwaltschaft, UNHCR, Länder (Landesregierung, LT-Abgeordnete), Caritas, Diakonie, Wirtschaftskammer, Arbeiterkammer, Industriellen-vereinigung, Ex-Flüchtlingskoordinator Christian Konrad u.a.