Forderungen für 2018 – Reaktion auf neues Regierungsprogramm

Der Jahreswechsel wird stets von Rückblicken, Bilanzen und Vorsätzen für das kommende Jahr begleitet. Die Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien (KJA) hat für die neue Regierung eine Liste an „Neujahrsvorsätzen“ zur Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen erstellt. Die KJA möchte ÖVP und FPÖ gern beim Wort nehmen, wenn sie im Regierungsprogramm schreiben: „Für uns stehen vor allem die Kinder im Mittelpunkt“ (Seite 9). Leider vermissen wir für die Umsetzung dieses Ziels zahlreiche wichtige inhaltliche Aspekte. So mangelt es dem Programm vor allem auch an Maßnahmen für armuts- und ausgrenzungsgefährdete Kinder und Jugendliche, insbesondere für Kinder, die geflüchtet sind. Auch das Wort Kinderrechte kommt kein einziges Mal im Programm vor.

Einseitiges Familienbild

Auch das Familienbild der beiden Parteien – die sogenannte Kernfamilie von Frau und Mann mit gemeinsamen Kindern – entspricht weder der Realität vieler Menschen in Österreich, noch ist dieses Modell, welches im Programm als „natürliche Keimzelle und Klammer für eine funktionierende Gesellschaft“ bezeichnet wird, eine Garantie, dass Kinder behütet aufwachsen können. Dazu braucht es wesentliche gesetzliche und gesellschaftliche Änderungen bezüglich der Kinderrechte.

Sinnvolle Politik kann nur gemacht werden, wenn sich ein Regierungsprogramm an den Lebensrealitäten der Menschen und nicht an vorgestrigen Normvorstellungen orientiert. Tatsache ist, dass Kinder und Jugendliche egal in welcher familiären Konstellation sie aufwachsen, welche Herkunft sie haben, welche Erstsprache sie sprechen oder welcher Religion sie angehören, alle die gleichen Rechte haben.

Was 2018 endlich umgesetzt werden muss

Liegt den Regierungsparteien tatsächlich das Kindeswohl am Herzen, sollten sie folgende Aspekte beachten:

Kinderrechte in die Verfassung

  • Es braucht ein klares Bekenntnis zum Schutz aller Kinder und Jugendlichen vor jeglicher Form von Gewalt (sexuelle, körperliche, psychische) von allen Entscheidungsträgerinnen und –trägern in sämtlichen politischen und gesellschaftlichen Ebenen, Institutionen, Behörden und Vereinen.
  • Umfassende und vollständige Verankerung der gesamten Kinderrechtskonvention auf Verfassungsebene, nach dem Vorbild der Europäischen Menschenrechtskommission, ist ein unabdingbares Instrument zur Anerkennung der Rechte aller Kinder und Jugendlichen, egal wie ihr aufenthaltsrechtlicher, ökonomischer oder sozialer Status ist.
  • Dies inkludiert die ersatzlose Streichung des Artikels 7 (Gesetzesvorbehalt mit Kriterien für zulässige Beschränkungen der Kinderrechte).
  • Flächendeckende Informationsmaßnahmen für Kinder und Jugendliche über ihre Rechte stellen einen wesentlichen Präventionsaspekt dar – die Aufgabe Kinder und Jugendliche zu schützen, obliegt jedoch den Erwachsenen.
  • Eine weitere wichtige Prävention wären flächendeckende Kinderrechte-Sensibilisierungsmaßnahmen sowie Aus- und Weiterbildung für Eltern und andere Personen, die Verantwortung für Kinder und Jugendliche übernehmen (Schule, Freizeit, Medizin, Exekutive, Justiz, Sozialarbeit etc.).

Anerkennung und Wertschätzung der diversen Lebensrealitäten

  • Das Regierungsprogramm spricht viel von „unseren Werten“, lässt jedoch aus, was genau diese Werte darstellen und wer in das „unsere“ inkludiert ist. Die Differenz zwischen „Zuwanderern“ und „Österreichern“ wird immer wieder betont. Die Kinder- und Jugendanwaltschaft hält es für einen wesentlichen Fehler in einem migrationsgeprägten Land, Menschen mit Migrationshintergrund nicht als gleichwertigen Teil der Gesellschaft anzuerkennen und Diversität nur über die Kulturalisierung von Problemen zu denken. Wir fordern die Wertschätzung von Diversität und Transkulturalität ein. Denn Kinder (und auch Erwachsene) müssen sich nicht zwischen der einen oder der anderen Kultur entscheiden – Identitäten sind dynamisch, vielfältig, relativ und nichts Festes, klar Abgrenzbares.
  • Integration wird von ÖVP und FPÖ vehement eingefordert. Dass Kinder, die „keine ausreichenden Deutschkenntnisse aufweisen“ in separaten Klassen unterrichtet werden sollen und das „Sonderschulwesen“ erhalten und gestärkt werden soll, widerspricht diesem Ziel jedoch massiv. Integration funktioniert nur durch Inklusion.
  • Die Ideen zum Bildungssystem sind sehr stark von einem Leistungsgedanken motiviert. Während die Ambition, junge Menschen mit ausreichend Kompetenzen für ihre Zukunft auszustatten, zu unterstützen ist, fehlt es aber an Visionen, wie gegen strukturelle Diskriminierung vorgegangen werden kann und wie Inklusion, Partizipation sowie die Rechte von Kindern im Schulsystem gefördert werden können.
  • Positiv bewertet die KJA, dass die neue Regierung Elementarpädagogik aufwerten möchte, vermisst jedoch die Wertschätzung für Diversität und Mehrsprachigkeit als Ressource, die sich auch in der Aus-, Fort- und Weiterbildung und letztlich in der Praxis niederschlagen muss. Transkulturelle Kompetenzen, altersgerechte Sexualpädagogik und Vermittlung der Kinderrechte als nachhaltige Maßnahme zur Gewaltprävention sollten wesentlicher Bestandteil der elementarpädagogischen Ausbildung sein.
  • Der geplante Ausbau der Frühen Hilfen zur Unterstützung von Familien in besonders belastenden Situationen ist begrüßenswert. Zusätzlich braucht es jedoch auch einen Ausbau an ambulanten Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe zur Vermeidung von Fremdunterbringung, wie im Sonderbericht der Volksanwaltschaft 2017 und im Gewaltpräventionsbericht der KIJAS gefordert.
  • Inakzeptabel ist die Tatsache, dass das Regierungsprogramm keine gezielten Unterstützungsmaßnahmen für armutsgefährdete und von Armut betroffene Familien und Kinder, insbesondere Mehrkindfamilien und Alleinerziehende, vorsieht. Ein Grundeinkommen für Kinder und Jugendliche wäre ein Schritt aus der Armut.
  • Das Programm enthält keinerlei rechtliche Verbesserungsvorschläge für LGTBQI*Personen. Auch hier gibt es eine Reihe an Forderungen, um die Rechte von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Besonders dringend, braucht es ein Verbot von medizinisch nicht notwendigen und oftmals irreversiblen Geschlechtsanpassungen an Kindern und Jugendlichen ohne deren Einwilligung. Auch die Anerkennung des dritten Geschlechts, wie es in Deutschland bereits der Fall ist, steht in Österreich aus.

Justiz, Prävention und Resozialisierung

  • Über die Pläne zum Ausbau des Kinderschutzes durch Reformen im Zivil- und Familienrecht (Seite 43) hätten wir gerne mehr erfahren, als die bloße Ankündigung. Vorschläge dazu stellen die Kinder- und Jugendanwaltschaften gerne zur Verfügung.
  • Die angedachte Angleichung der Strafdrohungen für junge Erwachsene an jene von Erwachsenen ist abzulehnen. Stattdessen braucht es einen Ausbau pädagogisch geführter Angebote für verurteilte Jugendliche und junge Erwachsene mit geringem kriminellen Potenzial, in dem sie Stabilisierung und Integration erproben können. Damit eine wirkliche Resozialisation gelingen kann, müsste sich der Vollzug an den Bedürfnissen der Jugendlichen orientieren.
  • Weiters sollten sämtliche Präventionsmöglichkeiten bezüglich Jugendkriminalität ausgeschöpft werden.
  • Die KJA fordert weiterhin die Schaffung eines Jugendgerichtshofes sowie eine eigene Abteilung für Jugendrichterinnen und -richter in allen Landesgerichten und Staatsanwaltschaften.
  • Um eine erfolgreiche Resozialisierung in die Gesellschaft zu gewährleisten, braucht es zudem Rechtsanspruch auf psychiatrische Behandlung und Pflichtschulabschluss im Vollzug.
  • Das Regierungsprogramm sieht vor, dass bei Gewalt- und Sexualdelikten, die nachhaltig psychischen Folgen für Opfer im Strafausmaß berücksichtigt werden. Da in letzter Zeit bereits der Strafrahmen angehoben wurde, sollte eine Evaluierung der bestehenden Gesetze erfolgen. An dieser Stelle fordert die KJA erneut den Ausbau an psychiatrischen Hilfen für Kinder und Jugendliche, die Gewalt erlebt haben.

Die Kinder und Jugendanwaltschaft Wien wünscht der Regierung Mut, um über die Lücken in ihrem Programm zu reflektieren und viel Erfolg für die Umsetzung sinnvoller Ideen wie etwa der bundesweiten Vereinheitlichung des Jugendschutzes. Die Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien ist gerne bereit Ihr fachliches Wissen bei sinnvollen Maßnahmen einzubringen.

Abschließend möchten wir uns bei allen Partnerinnen und Partnern für ihren Einsatz für die Kinderrechte im Jahr 2017 herzlich bedanken und freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit im neuen Jahr!

Die Kinder und Jugendanwaltschaft Wien